TKOM_Produktionsvorlage_05_2018_web - page 45

Eindrucksvolle Nacht
Sicher wünscht sich kaum jemand in
so tiefe Düsternis zurück, doch sollte
uns bewusst sein, dass mit der Dun-
kelheit auch viel Lebensqualität ver-
loren geht. Mit ihr verschwindet die
Ruhe, um die Eindrücke des Tages zu
ordnen, sich zu sammeln und zu erho-
len, mit ihr verschwinden aber auch
jene Eindrücke, die wir nur nachts
gewinnen können: die Schönheit des
Sternenhimmels, wenn die Milch-
straße als funkelndes Band erscheint,
die speziellen Geräusche, die zur
Nacht gehören, ja sogar die Gerüche,
die anders wahrzunehmen sind als
bei Tag. In den Alpen – etwa in den
Hohen Tauern oder im hintersten
Kauner-, Pitz- und Ötztal – sind wir
noch in der glücklichen Lage, ziemlich
dunkle Flecken zu finden. Zweifellos
würde es zur Entschleunigung beitra-
gen, die Qualitäten dieser Regionen
ein wenig auf die Orte, an denen wir
leben und arbeiten, zu übertragen. Es
lohnt sich, die Lichtverschmutzung
gering zu halten, mehr Stille einkehren
zu lassen, einmal nur für sich zu sein
oder sich mit nichts zu beschäftigen.
Ruhe finden
„Anni, tua d’ Kassetten nei, a Tou-
rist sitzt in der Gaststuben!“, witzelte
in den 1980er-Jahren der bayerische
Kabarettist Gerhard Polt über die
gewohnheitsmäßige Beschallung in
den Wirtshäusern. 30 Jahre früher
schrieb der US-amerikanische Kom­
ponist John Cage das Musikstück
„4’ 33’’“, in dem ein Pianist auftritt,
sich ans Klavier setzt, den Deckel
öffnet, die Noten platziert und vier
Minuten und 33 Sekunden lang keinen
einzigen Ton anschlägt. So fern von-
einander diese beiden Beispiele sind,
so verweisen sie doch darauf, dass
die Stille uns das Hören wieder lehrt.
Wer eine Aufführung von „4’ 33’’“
besucht, wird sich des Raumklangs,
der Bewegung oder Ruhe der anderen
Zuhörer und der Geräusche, die von
außen ins Innere des Konzertsaals
dringen, wieder bewusst. Wer mit-
ten im Skigebiet von Sölden auf der
nicht beschallten Terrasse der Gampe
Thaya sitzt, wird die Wohltat solcher
Ruhezonen in touristischen Hotspots
schätzen lernen und vermutlich auch
das überwältigende Bergpanorama
der Ötztaler Alpen, das ihm dort quasi
vor die Füße gelegt ist, intensiver, weil
ohne Ablenkung, genießen können.
Räume zum Denken
Nicht nur dabei lohnt es sich, sich
zugunsten des Einfacheren gegen das
Überladene zu entscheiden, sich an
der Schönheit oder Leere eines Rau-
mes zu freuen und die Freiheit wahr-
zunehmen, seine Fantasie spielen zu
lassen. Vom Architekten Ludwig Mies
van der Rohe ist der Rat an seinen
Kollegen Hugo Häring überliefert:
„Menschenskind, mach doch die Bude
groß genug, dann kannst du hin und
her laufen und nicht bloß in einer vor-
gezeichneten Bewegung.“ Das ist kein
Plädoyer für Großbauten, sondern eine
Aufforderung, nicht jedes Detail und
jeden Zweck vorzugeben. Die Größe
der „Bude“ schafft Raum und Denk­
raum. Sie ermöglicht es, einen Ort
mit unterschiedlichen Funktionen zu
füllen und sich mit anderen Menschen
auszutauschen. Das führt uns zurück
zu Klarheit und Einfachheit und damit
zu ganz grundlegenden und schät-
zenswerten Qualitäten im Leben.
Buchtipps
˹
˹
Paul Bogard: Die Nacht. Reise in
eine verschwindende Welt, Karl
Blessing Verlag 2014
˹
˹
Bernd Willinger, Norbert Span:
Berge unter Sternen, Knesebeck
2017
Die Fotografen BerndWillinger und Norbert
Span
bilden den Nachthimmel über den
Alpen ab und machen damit sichtbar, was
im Tal oft verborgen bleibt.
NÄHERE INFORMATIONEN:
KAMMERWEST
TEL. +43 512 588 335
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AUS DER PRAXIS
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